Ausstellungen

Experiment Jugendstil

 

 

Laudatio Dr. Michael Becker / Schulleitung wfk

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie ganz herzlich zur Eröffnung der Ausstellung “Experiment Jugendstil”. Wir freuen uns, einen Beitrag zum aktuellen Jugendstiljahr in Wiesbaden leisten zu können.

Sie erleben eine überwiegend moderne Auseinandersetzung mit den inhaltlichen, stilistischen und lebenskünstlerischen Themenkreisen der in sich selbst variationsreichen und keinesfalls einheitlichen, da europaweiten künstlerischen Quasi-Bewegung.

Vor allem die kunsttheoretische Lehre der Wiesbadener Freien Kunstschule ist ohne die formal-ästhetischen Errungenschaften des Jugendstils nicht vorstellbar, die da wären: eine an den bildautonomen Gesetzen der Fläche orientierte Bilddialektik, der Bruch mit der Symmetrie, die Emotionalisierung der bildnerischen Mittel, deren geistige Symbolik, die Autonomisierung besonderer Kompositionsarten wie Verteilungs- und Anzahlkomposition, die bewusste Einbeziehung des Bildformats bzw. dessen Auflösung im Dienste eines ästhetischen Mehrwertes, die besondere Bedeutung des Proportionskontrastes, die klare Begünstigung von Gestaltrichtigkeit gegenüber Naturrichtigkeit, aber vor allem die Gleichwertigkeit von Figur und Hintergrund. Allesamt also wertvolle gestalterische Universalien, die uns bis heute als Werkzeuge einer individuellen und vor allem autonomen Bildfindung zur Verfügung stehen.

Aber auch die stilistischen Spielarten des Art Nouveau sind bis heute Quelle der Inspiration, wenn es zum Beispiel darum geht, die Spanne zwischen Realismus und Antirationalismus auszureizen, märchenhafte, hermetisierte und melancholisch angehauchte Stimmungen als Ausdruck von Weltflucht zu realisieren. In diesem Duktus, individuell und vielseitig experimentell umkreist, werden Sie in dieser Ausstellung eine ganze Reihe an Beispielen vorfinden.

So verbindet sich in der künstlerischen Fotografie von Christel Käßmann das fotografische Zeugnis einer gelebten Melancholie mit einem musikalischen Rhythmus der Ruhe und Bedächtigkeit, sie entführt den Betrachter in die Welt solitärer Weiblichkeit, wie sie in vielen Werken des Jugendstils paradigmatisch anzutreffen ist. Christel Käßmanns Referenz zu einem Gedicht von Georg Trakl bestärkt die geistige Verbindung zu dieser Epoche.

Wenn Verena Barisch-Wild im Rahmen ihres kunstkonzeptuellen Ansatzes Buchseiten lyrischer Exzerpte zum Beispiel von Anton Tschechow in wabenartige, dreidimensionale Röhrchen verwandelt und nebeneinander anordnet, so arbeitet sie mit der Synergie aus lyrischem und bildnerischem Ich und erreicht dadurch besondere bildnerische Atmosphären. Der Betrachter erfährt hier eine Übersetzung von Lyrik in einen bildnerisch-ornamentalen Rhythmus. Dies zeigt uns, dass Dekor und Ornament tiefer gefühlt sein kann als vielleicht angenommen.

Wenn Martina Henne ein Bild von Margaret MacDonald Mackintosh im Rahmen des Collagedrucks bildnerisch bearbeitet, so wird die fein ziselierte Bildstruktur der berühmten Künstlerin durch moderne digitale Bildbearbeitungsverfahren sowohl betont als auch im wahrsten Sinne verflacht, ein Merkmal, das die künstlerische Moderne offensichtlich nicht erst mit Cézanne bereitstellt.

In den Gemälden und Fotografien von Delaram Homayouni finden wir meist eine Mischung aus Ornamentalem und Autonomem. Gerade dieses Spannungsfeld ist auch für den Jugendstil prägend. Ausgehend von dem Naturbezug Baum werden die unterschiedlichen darstellerischen Möglichkeiten innerhalb dieses Spannungsfeldes untersucht und umgesetzt. Die stilistischen Mittel des Jugendstils stellen insofern unter Beweis, dass sie dafür geeignet sind, durch ihre kreative Verwendung einen persönlichen künstlerischen Entwicklungsprozess zu vollziehen, der sich auch im Großen, nämlich in der kunstgeschichtlichen Entfaltung der bildnerischen Mittel bis heute abzeichnet. In diesem Zusammenhang weise ich gerne auf eine Vortragsreihe hin, die ab nächstem Sonntag hier bei uns beginnt, in der Edith Naumann zwischen 16 und 18 Uhr Ihnen eine Betrachtung der bildnerischen Grundelemente im Verlauf der wichtigsten Etappen der Malerei und Graphik vom Jugendstil bis heute präsentieren wird.

Vor allem die Vorstellung eines Gesamtkunstwerks birgt ein enormes Modernisierungspotential. Wenn Kunst die Chance erhält, das Alltagsleben des Menschen zu durchdringen und zu bereichern, so ist der Weg zur Reformation des Lebens auf allen seinen Sektoren geebnet, ein Desiderat, das meines Erachtens in seiner aktuellen Brisanz nicht hoch genug einzuschätzen ist. Wir leben definitiv in einer Zeit des Umbruchs. Auch wenn es viele noch nicht wahrhaben wollen, so wird die Menschheit vor allem einen spirituellen Wandel vollziehen müssen. Solange das Bruttoinlandsprodukt der Gradmesser eines zweifelhaften Wohlstands ist, dürfte dies allerdings kaum gelingen. Was nützt uns ein Wohlstand, wenn wir uns durch ihn immer mehr von unserer inneren und äußeren Natur entfernen, wenn wir aus Bequemlichkeit und angepasstem Mitläufertum ihre Zerstörung durch Kriege und Ressourcenausbeutung in Kauf nehmen?

Die Inspiration durch die Natur und ihre ganzheitlichen Prozesse ist heutzutage umso mehr vonnöten, wenn es darum gehen soll, von ihr zu lernen und sie zum Vorbild sogar für gesamtgesellschaftliche Prozesse zu nehmen.

Eine kritische Auseinandersetzung mit künstlerischen Mitteln kann vielleicht helfen, jedem Einzelnen Veränderungsimpulse auf den Weg zu geben. So könnte die Installation von Brigitte Sterz für Sie den letzten Ausschlag geben, Ihr Leben im Hinblick auf die pervertierte Verarbeitung und Nutzung tierischer Produkte aller Art zu überdenken, um in letzter, aber nötiger Konsequenz auf sie endgültig und restlos zu verzichten. Hinter verführerischer Ästhetik verbirgt sich echtes Leid und Tod, sowohl an der Imbissbude, im Supermarkt für Mensch und Heimtier als auch in den Kunstwerken von Brigitte Sterz. Was hält uns vom letzten Schritt ab, durch den auf einfachste Art, nämlich durch ein anstrengungsloses Weglassen, aus der Erde ein ökologisches Kunstwerk gemacht werden könnte?

Unsere Ausstellung offenbart natürlich noch weitere Konfliktherde:
Größer kann der Konflikt zwischen ästhetisch-suggestiver, sirenengleicher Anziehung durch den blauen Farbklang von Wolfgang Becker und der menetekelhaften symbolistischen Abmahnung der profanen Vermüllung unseres Planeten durch das universalsymbolische und ornamentale Werk von Agnès Bucaille-Euler nicht sein. Was bringt uns die Kunst, wenn wir nicht alle unser Leben zu einem Kunstwerk umgestalten, das sich in den Kreislauf der Natur einfügt? Sapere aude! Gebrauche Deinen Verstand, um Dein Herz für die Natur zu öffnen. Integriere Dich demütig in den Kreislauf der Natur. Wir beklagen den Zustand unserer Welt, und doch sind die meisten unserer alltäglichen Entscheidungen für ihn verantwortlich. Es ist Zeit, jeden einzelnen unserer Schritte künstlerisch zu überdenken. Da kommen uns die comicartig dahingezeichneten Strichmännchen von Verena Barisch-Wild gerade recht, die als bildnerische Symbole auf das bittere Spiel um das Schicksal der Weltkugel verweisen, die objektive Brisanz durch die spaßige Darstellungsart gleichzeitig jedoch entschärfen. Kunst hält uns nicht umsonst den Spiegel vor, der uns die Fratze des Bösen in Form süßer Katzenvideos zurückwirft. Wir leben eben in einer smarten Diktatur. Ein Tor, der glaubt, das Volk hätte was zu melden, wenn es um die großen Entscheidungen geht. Jetzt geht die Jugend auf die Straße - aber ohne die nötigen kulturellen Transformationen realiter zu vollziehen, durch die eine neue Lebensart selbst zu einem authentischen Protest mutierte. Da, wo es keine Käufer und Kunden mehr gäbe, gäbe es auch keine Ressourcenkriege durch Konzerne. Unser Leben ist nicht alternativlos, wenn man mal wie hier in diesen Räumen kurz innehält und sich von den Kunstwerken die Hinweise und Impulse geben lässt, dass es so auf keinen Fall mehr weitergehen darf. Wenn, wie Sie in unserem Museumsshop in der oberen Etage erleben werden, selbst schon die Kunst bis zum Absurdesten ausgeschlachtet und kommerzialisiert wird, dann darf man eigentlich nicht mehr stillsitzen. Aber warum nicht vorher doch noch mal kurz sich auf den mit Munchs Schrei verzierten Klodeckel niederlassen, um vielleicht mal darüber nachzudenken, dass jeder Müll, auch der eigene, Rohstofflieferant sein könnte. Dann hätte sich die Kunst im Scheißhaus tatsächlich mal gelohnt.

Verstehen Sie, was ich meine? Wir sind nicht hier, um einen schönen Sonntag zu genießen, sondern um unser Leben zu überdenken, und wenn das geschehen ist, es zu ändern - oder zumindest diesen Eifer künstlerisch weiterzutragen, um auch das Leben anderer zu ändern. Kunst war schon immer irgendwie missionarisch, und dass sie heute nicht an der Spitze aller alternativen Bewegungen steht, ist ein unglaubliches Armutszeugnis und zeigt, wie verroht und durchrationalisiert unsere Gesellschaft bereits geworden ist

Wie verlogen ist unsere Gesellschaft, die Trauer mit Blumen austapeziert, sehr schön im Übrigen von der Künstlerin Mechthild Woestmann in Kreis gefasst, wenn bei uns im reichen Westen mal eine Bombe hochgeht, die täglichen Morde, die unsere Regierungen mit zu verantworten haben, um geopolitische Marktinteressen jenseits unserer eigenen Grenzen zu bedienen, aber keinerlei Protest von unserer Seite aus lostreten. Verbergen sich hinter dem schönen Dekor nicht auch wieder nur die Blumen des Bösen? Das darüber angebrachte verstörende Foto von Delphine Lévy könnte einen Hinweis liefern, dass mit diesem Ensemble irgendetwas nicht stimmt. Vielleicht sind wir aber bereits verloren, wie uns das Triptychon derselben Fotokünstlerin suggerieren möchte: Der von stehenden Orchideen eingefasste deformierte Torso als Symbol des zu Grabe getragenen Lebens? Oder doch nur schöner Schein eines Fatalismus? In einem anderen fotografischen Beitrag wird der eingedrückte Torso auf einmal vor einer dekorativen Märchentapete klangvoll in Szene gesetzt. Also doch alles nur gestellt und alle können beruhigt wieder nach Hause gehen?

Wäre da nicht die Flüchtlingswand unserer zu Installationskünstlerinnen mutierte Mechthild Woestmann und Brigitte Sterz mit freundlicher Bildfreigabe unseres rastlosen Hans-Martin Heinemeyer, eine Flüchtlingswand, die sich in den realen Raum unserer Lebenssphäre hineinarbeitet und eine Aktion von uns provoziert. Ist der Vorhang aus Gold und Silber, der moderne Rettung und Schutz verheißende Willkommensgruß westlicher Zufluchtsstaaten etwa zerrissen? Wird hier nicht ein allgemeines Muster der Massenbewegungen freigelegt, das mal wieder nachdenklich machen soll, oder begnügt man sich mit dem ornamentalen Dekor einer anonymisierten Masse, was ja makaber genug wäre?

Leider wird man immer noch nicht in unser Wiener Kaffee entlassen, weil auch noch Werke auf Sie warten, die bislang noch nicht von mir erwähnt wurden, zunächst zu nennen eine kleine Auswahl von Ergebnissen unserer Alla-prima-Online-Seminare, in denen die Teilnehmerinnen täglich über nur 2 Stunden hinweg eine herausforderungsvolle Aufgabe rund um das Thema Jugendstil bearbeiten durften. Dann natürlich die Ergebnisse aus dem gleichen Aufgabenkatalog, nur hier vor Ort im Rahmen der Malerei am Montag Vormittag, des Seminars Carpe Manem entstanden.

Herzlichen Dank an alle Künstlerinnen und Künstler, durch die diese Ausstellung mit herausforderungsvoller und ästhetischer Substanz versorgt wurde. Vor allem danke ich dem tollen wfk-Team, ohne das diese Ausstellung in wochenlanger Vorarbeit bis zur letzten Sekunde nicht hätte realisiert werden können.

So, Sie würden uns einen großen Gefallen tun, wenn Sie unseren absurden Museumsshop leerkaufen würden, seine Besonderheit besteht im Kontrast zu anderen Museumsläden darin, dass die meisten Artikel selbstgemacht sind. Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Konsumrausch.

Vielen Dank und viel Spaß mit der Ausstellung!

 

 

 

 

 

Wolfgang Becker